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ÜBER DIE SICHERHEIT DER VÖLKER

Am 27. März 1972 in Helsinki vor der Vollversammlung des Ökumenischen Arbeitskreises für Information in Europa

Zu Ihrer Konferenz sind Experten-Vertreter des Informationssektors aus verschiedenen Ländern mit zum Teil unterschiedlichem Gesellschaftssystem zusammengekommen. Das Thema Ihrer Konferenz -- wie man im Rahmen der ökumenischen Bewegung und mit ihrer Hilfe das Verständnis der Völker füreinander fördern kann -- ist tatsächlich bedeutend. Das Auffinden einer gerechten und zweckdienlichen Antwort auf die ihr eigene Problematik berührt die Lebensfragen der Menschheit. Für ein beiderseitiges Verständnis sowohl zwischen den Völkern als auch zwischen den einzelnen Menschen Sorge zu tragen, ist ganz besonders eine Angelegenheit der Kirchen, die einen großen Einfluß auf das menschliche Denken haben. Die Kirchen können sich hier einer allgemeinmenschlichen und gesellschaftlichen Verantwortung nicht entziehen; Ihre Konferenz ist ein ermutigendes Zeichen dafür, daß die Kirchen sich ihr auch nicht entziehen wollen.

Die Kirchen tragen auch im historischen Sinne die Verantwortung eines internationalen Versöhnungsfaktors. Erst drei Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Gewalt, Krieg und Verwüstung die Kämpfe unter den Gläubigen Europas prägten. Der Glaube war damals herabgestuft zum Vorwand eines großmachtpolitischen und rücksichtslosen Machtkampfes. Von dieser Rolle des Glaubens ist -- einige bedrückende Relikte ausgenommen -- nur eine beschämende Erinnerung übrig. Kann man hoffen, daß auch der abflauende Kampf zwischen den politischen Ideologien seine Macht auf den menschlichen Geist und seine Rolle in der internationalen Politik möglichst bald auf die gleiche Weise verliert wie die Religionskriege früher? An die Stelle von Intoleranz und Haß müssen in allen Lebensbereichen Verständnis und menschliche Brüderlichkeit treten. Dafür haben wir kaum noch 300 Jahre zur Verfügung.

Ich las kürzlich ein Interview des früheren Generalsekretärs der Vereinten Nationen, U Thant. Mir blieb besonders die folgende Lebensweisheit des Buddhismus, die er zitierte, im Gedächtnis: "Täusche niemals einen anderen oder hasse niemals irgend jemanden in irgendeinem Land, versuche niemanden aus Haß oder Böswilligkeit zu strafen oder ihm Schlechtes zu wünschen. So wie eine Mutter ihr eigenes Kind behütet und beschützt, so sollte jeder alle Lebewesen unbegrenzt lieben, um Herzensgüte über die ganze Welt auszustrahlen." Diese Worte, die U Thant als sein alltägliches Lebensmotto charakterisierte, enthalten eine Weisheit, von der die gesamte Zukunft der Menschheit abhängen kann, wenn sie den Wert dieser Weisheit versteht.

Ich sehe als endgültiges Ziel der ökumenischen Zusammenarbeit der Kirchen die Förderung der allgemeinen Menschlichkeit. Diese Aufgabe überschreitet den eigenen Einflußbereich der Kirchen. Zu den edelsten Botschaften des Christentums gehört: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das kostbarste Ziel des Marxismus ist eine Welt, wo die Völker untereinander Brüder sind. Die ökumenische Zusammenarbeit kann ihrerseits eine Synthese finden helfen, deren Inhalt der Mensch ist, der Mitmensch, nah oder fern, in Europa oder in anderen Erdteilen. Der Mensch ist das Wichtigste, nicht Glaube, Ideologie, System oder Kulturkreis.

Oft wird gesagt, daß die internationale Politik amoralisch ist, außerhalb der Kategorien Gut und Schlecht. So ist es auch leider oft, und zur Bewahrung der Lebensbedingungen jedes Volkes müssen die verantwortlichen Staatsmänner dies stets beachten. Aber ein Grundtheorem setzt nicht voraus, daß das gesamte Handeln im Bereich internationaler Politik frei von Moral oder gänzlich jenseits der Moralgesetze wäre. Wie bei allem menschlichem Handeln bestehen auch hier Möglichkeiten, entweder verderbend und zerstörend zu wirken oder das allgemeine Wohlergehen zu fördern. Es gibt Alternativen, oft begrenzte, aber trotzdem real vorhandene.

Die Außenpolitik meines eigenen Landes ist mir natürlich am vertrautesten: Sie ist kurz definiert eine Neutralitätspolitik mit dem Ziel, dem finnischen Volk die Möglichkeit zu sichern, selbständig und frei im Rahmen eines selbst gewählten Gesellschaftssystems sein eigenes Leben zu entwickeln. Ich habe immer gemeint, daß in diesem Ziel -- auch international gedacht -- positive moralische Werte enthalten sind. Bereits die Neutralitätspolitik als solche entspricht dem Willen zum Frieden, denn ihr Grundziel, selbst in Frieden leben zu dürfen, enthält das Recht auf ein Leben in friedlichen Verhältnissen auch für andere. Neutralitätspolitik dient der Sache der internationalen Verständigung; denn für ihr Gelingen ist eine weitgehende Zusammenarbeit aller Völker und Gesellschaftssysteme untereinander eine unbedingte Voraussetzung. Das "Sesam öffne dich" der Neutralitätspolitik ist nicht der erklärte Wille des Staates, Neutralitätspolitik zu betreiben. Entscheidend ist -- darüber hinaus -- daß die anderen Länder dieser Politik vertrauen. Und es genügt nicht, daß die weit entfernten Länder ihr vertrauen -- am wichtigsten ist, daß die Nachbarländer nicht an deren Aufrichtigkeit zweifeln. Von dieser Basis ausgehend,betreibt Finnland seine aktive Außenpolitik. Ohne falschen Stolz kann ich sagen: Auch bei den außenpolitischen Grundlösungen erkennt man den Baum an seinen Früchten.

Auch unter diesem Aspekt hat es mich gefreut, daß entschieden wurde, Ihre Konferenz in Finnland abzuhalten. Ich betrachte diese Ortswahl als Höflichkeit meinem Land gegenüber und als Ausdruck dafür, daß die friedliche, aktive finnische Neutralitätspolitik im Kreise der ökumenischen Bewegung als Förderer des gemeinsamen Wohls aller europäischen Völker betrachtet wird. Wir hier in Finnland sind froh über diese Anerkennung, die von den Kirchen kommt.

Es ist wohl eher banal, zu konstatieren, daß wir in einer Zeit großer Veränderungen leben. Die Behauptung ist dennoch in um so stärkerem Maße berechtigt. Niemals früher, namentlich nicht in Europa, hat es eine Zeitepoche gegeben, mit Kontakten, Diskussionen und Gesprächen, die sich auf alle Bereiche und Ebenen derart erstrecken wie heute. Der Fortsetzung einer Phase eines Teils dieses Verhandlungsprozesses dürfen wir zum Beispiel morgen beiwohnen, wenn die SALT-Gespräche wieder in Helsinki aufgenommen werden. Das Eis des Kalten Krieges ist geschmolzen, und die künstlichen Dämme auf dem Weg der internationalen Entwicklung sind dabei, sich zu öffnen. Wir glauben und hoffen, daß eine Wende zum Besseren endlich eingetreten ist. In diesem Sinne ist das Thema Ihrer Konferenz, das Problem eines allseitigen Verständnisses, aktuell und richtig gewählt.

Der unzertrennliche Zwillingsbruder des Friedens ist Zusammenarbeit. Auf der Welt, in der wir leben, ist das erste nicht ohne das andere möglich und besteht das andere nicht ohne das erste. Erst auf der Grundlage der Gleichberechtigung unter den Staaten und gestützt auf das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer gewinnt die Zusammenarbeit zwischen den Völkern an eigenem Gewicht und erhält Möglichkeiten, die ein Gelingen erreichbar machen. Was die internationale Zusammenarbeit betrifft, ist es nicht wichtig und nicht einmal möglich, daß alle die gleichen Aufgaben übernehmen: Das wichtigste ist, daß jedes Land gerade das macht, wozu es Voraussetzungen hat. Finnlands Rolle in der internationalen Zusammenarbeit wird von den Voraussetzungen eines kleinen neutralen nordischen Landes bestimmt. Auf dieser Basis hat die finnische Regierung beispielsweise schon nahezu drei Jahre für das Zustandebringen einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gewirkt.

Außer unserer nach Frieden strebenden Neutralitätspolitik und unseren guten Beziehungen zu allen europäischen Ländern -- ganz besonders unsere gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu einer Großmacht, die auf zentrale Art für Frieden und Sicherheit auf unserem Erdteil verantwortlich ist -- besitzt Finnland eine ganz besondere Voraussetzung, das Zustandekommen der Konferenz zu fördern und sowohl in der Anfangsphase als auch während der Konferenz selbst als Gastgeberland aufzutreten. Diese Voraussetzung sind unsere gleichmäßigen und neutralen Beziehungen zum Herzgebiet der Probleme in Europa, zu den beiden Erben des ehemaligen Deutschen Reichs. Die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sind in unserem Land auf derselben Ebene. Die finnische Regierung unterhält gute offizielle Beziehungen zu beiden Staaten Deutschlands und behandelt sie gleichwertig. Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, daß diese Politik Finnland Möglichkeiten gibt, die die Regierung auswerten kann und auswerten wird, um die Sache einer Konferenz über europäische Sicherheit und Zusammenarbeit zu fördern. Die finnische Regierung hat auch mit Befriedigung vermerken können, daß dieser Ausgangspunkt überall anerkannt worden ist. Wir haben in verschiedenen Zusammenhängen konstatiert, daß die betreffenden Regierungen gerade diejenigen Voraussetzungen für das Zustandebringen der Konferenz für besonders wichtig halten, welche die finnische Außenpolitik selbständig und aus eigener Initiative nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat

Die finnische Regierung ist davon überzeugt, daß die jetzt in Vorbereitung befindliche Sicherheits- und Zusammenarbeitskonferenz von Nutzen ist. Wir können sagen, daß die Richtung auf dem Weg zu dauerndem Frieden und dauernder Sicherheit jetzt Gestalt annimmt, jedoch die Einzelheiten sind noch unklar. Aber bevor der Prozeß losgehen kann, muß der erste Schritt gemacht werden -- und dieser Schritt muß sowohl die richtige Richtung einschlagen als auch ein festes Fundament haben, damit die Fortsetzung des Prozesses respektabel vonstatten geht. Die finnische Regierung ist aufgrund ihrer Rolle zur Zeit vor allem daran interessiert, ihr möglichstes zu unternehmen, damit der erste Schritt in Richtung auf die Konferenz möglichst bald und auf einem möglichst haltbaren Fundament erfolgt. Als erste Etappe ist der Beginn multilateraler Konsultationen zwischen den Chefs der in Helsinki akkreditierten Missionen anzusehen. Ein positiver Ausgang schafft auch Voraussetzungen für das Gelingen weiterer Phasen.

Gleichzeitig sind wir natürlich an der Konferenz selbst und ihren Zielen interessiert. Europa muß von verknöcherten Vorurteilen und überalterten, versteinerten Institutionen befreit werden, die einer Ausweitung der Zusammenarbeit unter den Völkern unseres Erdteils noch im Wege stehen. Neue Formen der Zusammenarbeit müssen entwickelt werden. Als Hauptziel der Konferenz sehe ich die Befreiung der Dynamik auf unserem Erdteil, die in den positiven Kräften des Friedens und der Zusammenarbeit wirkt und gleichzeitig in den Faktoren von Wechselwirkung und gegenseitigem Verständnis enthalten ist.

Unmittelbar wird Finnland ebenfalls von der Deutschen Frage berührt. Aus von uns unabhängigen Gründen werden unsere Beziehungen zu den deutschen Staaten durch eine provisorische Lösung geregelt. In den Beziehungen zwischen Finnland und den beiden deutschen Staaten muß eine gerechte, ausgewogene und dauerhafte Klärung erfolgen, die das gesamte Erbe des Zweiten Weltkriegs in Betracht zieht. Deshalb schlug die finnische Regierung, wie bekannt, im letzten September den Regierungen der beiden deutschen Staaten den Abschluß eines Vertrags über eine Gesamtregelung dieser Beziehungen vor. Unsere hierbei gemachten Vorschläge sind, wie ich die Sache sehe, vom Standpunkt der Beteiligten sowohl tragbar als auch in einem sich entwickelnden Europa verwirklichungsfähig. Die finnische Regierung hat ihre diesbezüglichen Vorschläge ihrerseits mit dem gesamteuropäischen Verhandlungsprozeß verknüpft, indem sie dafür sorgt, daß Finnlands eigene Ziele und Ansichten allenthalben gerade in der Phase bekanntgegeben werden, in der die Grundlagen für einem immer beständigeren Friedenszustand in Europa geschaffen werden.

Die finnische Regierung ist sich bewußt, wie die Regierungen aller Länder, daß das Endergebnis der Entwicklung in der Deutschen Frage zwei deutsche Staaten sein wird, deren Beziehungen zur Umwelt den allgemeinen Formen internationaler Praxis entsprechen. Aufgabe der finnischen Regierung ist es, diese Frage auf eine Weise zu behandeln, die mit dem allgemeinen Entwicklungsprozeß in Europa übereinstimmt und den Anforderungen der finnischen Neutralitätspolitik sowie den für gut befundenen Grundprinzipien unserer bisherigen Deutschland-Politik entspricht. Bislang hat Finnland seine Beziehungen zu den beiden Teilen Deutschlands auf selbständige Weise aufrechterhalten, ohne irgendwo um Rat zu fragen, und Finnland hat Maßnahmen nur dann akzeptiert, wenn sie der allgemeinen Linie finnischer Politik entsprachen. Auch in der Zukunft wissen wir wohl selbst am besten, was unseren Bedürfnissen entspricht, und wir sind in der Lage, unser Verhältnis zu den beiden Deutschland in Verbindung und parallel mit dem europäischen Verhandlungsprozeß zu entscheiden, nicht an ihn gebunden, aber doch in Übereinstimmung mit ihm, und wir kommen hinsichtlich einer friedlichen Entwicklung und den Erfordernissen unserer eigenen Politik zu einem befriedigenden Ergebnis.

Ich bin davon überzeugt, daß Finnlands Vertragsvorschlag die ihm zugedachte Aufgabe erfüllt und früher oder später Früchte trägt. In dieser wie auch in anderen Fragen, welche die europäische Sicherheit und internationale Zusammenarbeit berühren, ist es angebracht, sich eines alten römischen Sprichworts zu entsinnen: "Cutta cavat lapidem, non vi sed saepe cadende" -- "Der Tropfen höhlt den Stein nicht durch Gewalt, sondern durch stetiges Fallen". Ein kleines Land muß in seiner Außenpolitik die Kunst der Geduld und des Wartens besitzen, aber auch die Fähigkeit, im rechten Augenblick richtig zu handeln. Niemand sollte jedoch annehmen, daß die Bereitschaft eines auch so kleinen Landes, zu warten, end- und grenzenlos ist, besonders dann, wenn es sich um berechtigte Anliegen und um für dieses Land wichtige Probleme geht.

Ich habe hier versucht, verschiedene für den Frieden in Europa wichtige Probleme aus der Sicht der finnischen Regierung zu skizzieren. Alle Länder haben ihre eigenen Probleme und, was ihre bestmögliche Lösung angeht, oft voneinander abweichende Ansichten. Der tiefverwurzelte Egoismus in der Sicherheitspolitik jedes Landes hat sich trotz Entspannung auf unserem Erdteil nicht vermindert. Aber es ist dennoch etwas Neues entstanden, an das ich persönlich große Hoffnungen knüpfe: In Kreisen der Regierungen, sei es auch, daß sie verschiedenartige politische Grundauffassungen vertreten, vertieft sich eine immer weiter zunehmende Bereitschaft, Lösungen zu finden, die der Entwicklung zu beständigerem Frieden und größerer Sicherheit in Europa förderlich sind.

Beim Anstreben dieses Ziels bedarf es der Anstrengungen aller verantwortungsbewußten Regierungen. Aber sie allein genügen nicht. Internationale Probleme sind im Ursprung keine Probleme der Regierungen. Es sind Probleme von Menschen, und die Basis für ihre Lösung liegt beim einzelnen Menschen. Wie die Kriege in den Gedanken der Menschen ihren Anfang haben, so muß auch der Wunsch nach Frieden bei ihnen entstehen. Nur so lassen sich Garantien für eine wirkliche Sicherheit der Völker schaffen.