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EUROPA IM UMBRUCH

In Hörfunk und Fernsehen am 11. September 1971

Gegenwärtig sind wir Zeugen der Veränderung eines historischen Zeitalters in Europa und in der gesamten Weltpolitik. Die Veränderungen,die natürlich kontinuierlich erfolgt sind, entwickeln sich jetzt anstatt nur qualitativ schon strukturell.Sie lassen sich in den Beziehungen der Großmächte untereinander ausmachen, wie auch in der internen Entwicklung der Militärbündnisse und der ideologischen Gruppierungen und in der Art, wie die führenden Mächte der Welt ihre Ziele und die Rangordnung ihrer Politik neu bewerten.

Strukturelle Veränderungen lassen sich vor allem in den Verhältnissen unseres eigenen Erdteils erkennen. Aufgabe der finnischen Außenpolitik ist es, dafür zu sorgen, daß die endlich angelaufene positive Entwicklung in Europa in Richtung auf Entspannung und Erweiterung der Zusammenarbeit auch im Hinblick auf Finnland zu einem positiven Schlußresultat führt. Ein positives Endresultat aus unserer Sicht bedeutet Festigung der Position Finnlands und Verbesserung der Voraussetzungen für die Wohlfahrt unseres Volkes. Mehr verlangen wir nicht, mit weniger brauchen wir uns nicht zufrieden zu geben.

Linie der finnischen Außenpolitik ist es, die Sicherheit unsereS Volkes zu festigen und seine Wohlfahrt zu garantieren mit Hilfe einer friedlichen Neutralitätspolitik. Unsere Neutralitätspolitik hat bereits Traditionen, und sie ist überall bekannt.

Finnland ist nicht Ursache oder Ziel irgendeines internationalen Konflikts gewesen, was wiederum Einfluß dahingehend gehabt hat, daß Finnland die internationalen Bemühungen zur Klärung von Konflikten und zur Entwicklung einer friedlichen Weltordnung hat fördern können. Charakteristisch für die gegenwärtige Entwicklungsphase unserer Außenpolitik ist ja gerade die Aktivität auf einem ständig breiter werdenden internationalen Forum - vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen - und die Beteiligung an immer neuen internationalen Aufgaben.

All dies ist nur möglich gewesen, weil Finnlands Beziehungen zu seinem näheren Umfeld stabil und konfliktfrei sind. Die guten, auf dem Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand basierenden Nachbarschaftsbeziehungen zur Sowjetunion und die traditionell problemfreien Beziehungen zu unseren nordischen Brudervölkern begründen gemeinsam eine Situation, aufgrund welcher Nordeuropa außerhalb internationaler Krisen geblieben ist. Innerhalb dieses Rahmens haben wir unsere Außenpolitik aufbauen können.

Das uns sehr nahe Mitteleuropa hat sich in unseren staatlichen Beziehungen als Ausnahme von der Regel präsentiert. Obgleich wir mit den dortigen Konflikten nichts zu tun haben, haben wir in den zurückliegenden Jahren wieder und wieder besorgt die Zuspitzung der Probleme dort verfolgt und auch ihre Reflexwirkung auf unsere eigene Position erfahren. Der Name Berlin erscheint wieder in den Nachrichtenrubriken. Diesmal jedoch wirft er nicht den Schatten einer Krise voraus, sondern er prophezeit die Hoffnung auf eine friedlichere und sicherere Entwicklung.

Die finnische Regierung hat gestern den Regierungen beider Deutschland Verhandlungen über Verträge vorgeschlagen, die über eine Regelung der Beziehungen zwischen Finnland und diesen Ländern entscheiden würden. Der von uns jetzt getane Schritt bedeutet eine neue Öffnung, zugleich aber

eine konsequente Fortsetzung der von uns bislang verfolgten Deutschlandpolitik. Wenn die Welt sich ändert, dann ändert sich auch unsere Art, unsere Neutralitätspolitik der Entwicklung anzupassen, obwohl die Basis dieser Politik selbst unverändert bleibt.

Bislang ist die Frage der Anerkennung der beiden Deutschland aus der Sicht des neutralen Finnland in erster Linie ein Symbol des Konflikts gewesen. Darum haben wir zur Anerkennung nicht Stellung genommen, und deswegen haben wir keine diplomatischen Beziehungen entsprechend normaler internationaler Gepflogenheit mit den Regierungen Deutschlands unterhalten. Den Kontakt mit ihnen haben wir auf eine pragmatische Art und unter Einhaltung völliger Gleichheit aufrechterhalten. Die finnische Regierung ist jetzt zu der Ansicht gelangt, daß die generelle politische Entwicklung das Einleiten von Verhandlungen über eine diplomatische Anerkennung beider Deutschland ermöglicht hat. Entsprechend den Grundprinzipien der finnischen Deutschlandpolitik wird auch dies derart wahrgenommen werden, daß beide Deutschland eine Gleichbehandlung erfahren. Es liegt auf der Hand, daß die jetzt zu schließenden Verträge keinen Einfluß auf die Verträge haben werden, die Finnland schon eingegangen ist.

Die finnische Regierung wünscht eine endgültige Nachlaßreglung des letzten Teils, des uns wider unseren Willen zugefallenen Erbes, aus dem Zweiten Weltkrieg zu erreichen. Darum streben wir einen weit umfassenden Vertrag an, eine Art Pauschalregelung mit den beiden Deutschland. Die Anerkennungsfrage ist nur ein Teil des Gesamtkomplexes, und sie kann nicht für sich behandelt werden. Es ergibt sich aus der Natur der Sache, daß zwei unabdingbare Bestandteile der Verträge eine Anerkennung der finnischen Neutralität sowie ein ausdrücklicher Verzicht auf die Anwendung von Gewalt sind, gleichviel ob es sich dabei um Maßnahmen des Vertragspartners oder um Maßnahmen dritter Länder über das Gebiet des Vertragspartners hinweg handelt. Gewalt in ihren verschiedenen Formen hat in sehr vielen Phasen zu den Beziehungen Finnlands zum historischen Deutschland gehört. An dieser Tatsache können wir nicht rütteln. Aber wir können so handeln, daß die Möglichkeiten zur Gewaltanwendung künftig auf vertraglicher Basis abgeblockt und die Beziehungen Finnlands zu den beiden Deutschland auf diesem Wege mit der in Entwicklung befindlichen neuen Friedensordnung Europas verknüpft werden.

Der augenfälligste Punkt einer Erbauseinandersetzung über historische Beziehungen zwischen Finnland und Deutschland sind die von deutschen Truppen 1944-45 in Lappland angerichteten Zerstörungen. Die materiellen Verluste sowohl von Privat- als auch von öffentlichem Vermögen waren damals kolossal

Der finnische Staat hat auf die daraus herrührenden Forderungen niemals verzichtet, wenn sie auch mangels eines geeigneten Forums niemals vorgetragen wurden. Der Kriegszustand, der zwischen dem Deutschen Reich und Finnland geherrscht hat, hat auch zu vielen anderen offengebliebenen juristischen und ökonomischen Problemen geführt. Die vollständige und endgültige Klärung aller dieser Fragen ist der zentrale Teil der Verhandlungen über Verträge zur Reglung der Beziehungen.

Internationale Politik ist gleichbedeutend mit Veränderung, mal verdeckter, mal offener. Diese Tatsache findet durch den jetzt in Europa erfolgenden Prozeß eine Bestätigung, das Entstehen einer strukturell neuen Situation. Sie stellt die finnische Außenpolitik vor eine neue Problematik: wir müssen uns selbst klarlegen, wie diese Veränderung in der Situation Europas auf unsere Stellung einwirkt, weiterhin welche Aufgaben unsere Stellungnahme erwarten und schließlich wie sie im Interesse des Landes zu lösen sind. Wenn wir derartige Lösungen suchen, dann ist es angebracht, den klugen Rat von Präsident de Gaulle zu beachten: "Es ist immer gut, die Welt so zu sehen wie sie ist."

Das Absetzen der deutschen Frage von der Tagesordnung, soweit es uns angeht, ist nicht die einzige gerade jetzt aktuell werdende Herausforderung in unserer Außenpolitik. So scheint die Arbeit, die wir für eine Konferenz über die europäische Sicherheit und Zusammenarbeit leisten, endlich Früchte zu tragen. Ich meine nicht, daß die finnische Regierung Voraussetzungen für die Konferenz geschaffen hat. Ich meine, daß wir mit konsequenter und geduldiger Politik für uns die Möglichkeiten geschaffen haben, erfolgreich dann tätig zu werden, wenn ein weites Einverständnis über die Vorteilhaftigkeit des Abhaltens einer solchen Konferenz entstanden ist. Auf diese Phase folgt jetzt eine entscheidende Bewegung. Bei den betreffenden Regierungen besteht meines Wissens auch kein Zweifel an der Eignung Helsinkis als Austragungsort der Konferenz. Wir wissen, daß wir mit der Organisation fertig werden. Wenn die finnische Konferenzpolitik auch in der Zukunft den bereits stabilisierten Arbeitsmethoden folgt, um Einverständnis zwischen allen betroffenen Regierungen zu erreichen, dann bin ich überzeugt davon, daß wir positive Ergebnisse erreichen.

Als aktueller Arbeitssektor unserer Außenpolitik drängen sich die Aufgaben unserer Handels- und Wirtschaftspolitik auf. In den Fragen der europäischen Integration sind die Veränderungen in eine bemerkenswerte Phase getreten, in die der strukturellen Änderungen. Auch dabei ist Finnland als Steinchen im Spiel, mögen wir wollen oder nicht. Wir selbst müssen unsere Interessen wahrnehmen.

Die finnische Regierung hat sich entschlossen, ihre Beziehungen zur EG so zu regeln, daß wir strikt auf dem Boden unserer Neutralitätspolitik verbleiben. Die Frage der Zusammenarbeit mit der EG im Handel ist von einer derartigen Größenordnung, daß es ganz natürlich ist, wenn hinsichtlich ihrer Regelung verschiedene Ansichten vertreten werden. Ich habe jedoch bemerkt, daß einige unsere EG-Politik kritisierende Personen allgemeine EG-Kritik als solche aus den skandinavischen Nachbarländern ausgeliehen und versucht haben, sie unseren Verhältnissen anzupassen. Tatsächlich aber geht die finnische Politik von einem vollständig anderen Fundament aus wie die EG-Politik der westlichen skandinavischen Länder. Wir haben einen Anschluß an die EG oder eine Assoziierung Finnlands mit ihr niemals in Betracht gezogen und werden das niemals in Betracht ziehen. In dieser Hinsicht ist die Kritik irrelevant, weil ihr das Fundament fehlt. Hingegen untersuchen wir verschiedene Alternativen zur Regelung unserer Beziehungen mit dem Gemeinsamen Markt, wie wir die Möglichkeiten für eine beiderseitig vorteilhafte Zusammenarbeit mit der Investitionsbank des RGW, der wirtschaftlichen Zusammenarbeitsorganisation der sozialistischen Länder Europas untersuchen. Arbeitsziel der finnischen Regierung ist es ganz einfach, handelspolitische Lösungen zu erreichen, die eine Fortsetzung unserer wirtschaftlichen Wohlfahrt und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern. Ganz ohne Zweifel ist dies die zentralste und anspruchsvollste Aufgabe unserer Außenpolitik.

Meiner Aufmerksamkeit ist es durchaus nicht entgangen, daß einige Kritiker auch die rein handelsmäßige Zusammenarbeit mit der EG als eine Bedrohung unserer Neutralitätspolitik betrachten, weil sie indirekt unser Land in ein Abhängigkeitsverhältnis führen kann. Unter bestimmten Voraussetzungen mag diese Gefahr gegeben sein. Wenn wir aber beim Ausarbeiten unserer Handelsverträge im Auge behalten, daß derartige Möglichkeiten von vornherein ausgesperrt werden, dann bleibt diese Gefahr mehr eingebildet als wirklich. Sicher ist auch, daß die politische Führung unseres Landes jetzt und in Zukunft dafür sorgen wird, daß der Warenaustausch mit der EG nicht zu handelsmäßiger oder politischer Infiltration, derartigem Einsickern oder Eindringen in unser Land führt.

Wenn ich eben relativ ausgiebig die neuen Aufgaben unserer Außenpolitik behandelt habe, so ist es wohl angebracht, die Aufmerksamkeit unserer Staatsbürger auf einen konstanten Hauptpfeiler der von unserem Land gewählten Außenpolitik zu richten: daß man zu unserer Neutralitätspolitik Vertrauen hat. Der Eindruck, den wir mit gutem Grund von unserem Volk haben geben können, nämlich daß unser Volk praktisch einmütig die Linie unserer Außenpolitik unterstützt, hat das Vertrauen in unsere Außenpolitik und deren Kontinuität gestärkt. Ich muß aber sagen, daß ich während der letzten Zeit mit einer gewissen Besorgnis in unserem Land aufgetauchte bedauerliche Erscheinungen bemerkt habe -- wie Demonstrationen und Störungen der öffentlichen Ordnung -- , deren Zweck es im Grunde genommen war, die zwischen Finnland und der Sowjetunion herrschenden guten Beziehungen zu stören. Sie waren -- das stimmt schon -- unbedeutend, und man sollte ihre Bedeutung nicht vergrößern. Wenn aber derartige verwerfliche Handlungen vertuscht werden, dann besteht die Gefahr, daß sie weiter um sich greifen und es dann schwer wird, ihnen zu wehren. Bislang haben wir uns mit nur wenig Mühe von den Nachwehen des Nazismus distanzieren können, wodurch sich unsere außenpolitische Stellung gestärkt hat.

Die finnische Außenpolitik muß in der Welt der Veränderungen ihren eigenen Weg finden. Unser Grundziel ist permanent: Sicherung von Finnlands Unabhängigkeit und Wohlstand. Auch die Linie unseres Vorgehens ist klar: Weiterentwicklung der friedliebenden Neutralitätspolitik Finnlands. Von diesem Fundament aus, finden wir die Lösung für alle neuen Probleme, die der finnischen Außenpolitik bevorstehen.