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50 JAHRE FINNISCHE SELBSTÄNDIGKEIT

Rede am 5. Dezember 1967 in der Eissporthalle Helsinki

Finnland, das heute das erste halbe Jahrhundert seiner Selbständigkeit feiert, ist im Grunde erheblich älter.

Wir können nicht auch nur annähernd festlegen, wann das ausgeprägt finnische Gemeinwesen als geboren angesehen werden muß. Es entstand auf dem Wege jener inneren Entwicklung, die auf das Jahr 1362 folgte, als Finnland das Recht zur Teilnahme an schwedischen Königswahlen zuerkannt wurde; sie erstreckte sich bis 1809, als auf dem Landtag zu Porvoo Zar Alexander I. dem Großfürstentum Finnland Autonomie zugestand und Finnland "als Nation in die Zahl der Nationen" erhob.

Während der schwedischen Zeit hatten sich in Finnland die auf Mitmachen des Volkes gegründete lokale Selbstverwaltung, eine wirksam arbeitende Rechtspflege, ein geordnetes kirchliches Leben und eine höchste Regionalverwaltung konsolidiert; darüber hinaus hatte sich unter den Fittichen der eigenen Universität ein Bildungsleben entwickelt. Die Autonomie sicherte während der russischen Zeit der Bevölkerung die ihr von alters her zustehenden Rechte, und sie bewahrte die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Während der Autonomieperiode wurde bei uns weiterhin zielbewußt ein eigenständiges finnisches Gemeinwesen errichtet. Das Wirtschaftsleben entwickelte sich, und zwar in Richtung auf die Selbständigkeit zu, was durch das eigene Münzwesen, eigene Post- und Zolleinrichtungen und eine eigene Handelsflotte anschaulich wird. Das Schulwesen bemühte sich um Hebung des Bildungsstandes. Das Land hatte eigene Truppen. Als die finnische Volksvertretung in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine regelmäßige legislative Arbeit aufnahm, eröffneten sich dementsprechend weiträumige Möglichkeiten zum Schaffen und Festigen eines finnischen Lebensstils. Während des Generalstreiks* war unser Volk unter anderem dank der erwachenden Arbeiterbewegung aufgerüttelt genug, um bald allgemeines Wahlrecht und ein Einkammerparlament durchzusetzen. Man kann mithin sagen, daß angesichts all des Erwähnten Finnland die inneren Voraussetzungen für die staatliche Selbständigkeit hatte. Der Untergang der Zarenherrschaft und die günstigen Bedingungen im Gefolge der Oktoberrevolution schufen die äußeren Voraussetzungen für die Verkündigung der Selbständigkeit und die Anerkennung durch dritte Staaten.

Nach fünf Jahrzehnten können wir betrachten, wie wir, gestützt auf eigene Kraft, unser Land haben aufbauen können.

Das wichtigste von uns Erreichte ist natürlich die Bewahrung unserer staatlichen Selbständigkeit. Die Zeit ist hart, die Jahre sind streng gewesen. Die Opfer waren teuer. Es wäre nicht sinnvoll zu untersuchen, ob wir uns auch mit weniger Prüfungen hätten halten können, denn auf diese Frage bekommen wir bestimmt keine Antwort. Am 50. Jahrestag unserer staatlichen Freiheit gedenken wir mit Dankbarkeit jener Zehntausender, die sich geopfert und so dazu beigetragen haben, daß unsere blau-weiße Fahne an unseren Feiertagen flattert, deren größten wir heute begehen.

Wenn man mißt, was Nationen erreicht haben, so benutzt man als Elle im allgemeinen den wirtschaftlichen Wohlstand. Finnland hat sich im Wettbewerb der wirtschaftlichen Entwicklung nicht schlecht gehalten. Wir können heute konstatieren,

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* A. d. Ü.: 1905 im Zusammenhang mit dem russischen.

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daß die Völker, die im Sozialprodukt vor uns liegen, auch als selbständige Völker älter sind als wir. Der Wert unseres gesamten Sozialprodukts -- des Realeinkommens -- hat sich pro Kopf während der Zeit unserer Selbständigkeit vervierfacht. Zur Verdopplung unseres Lebensstandards waren in der ersten Periode 30 Jahre nötig, für die zweite Verdopplungsperiode knapp 20. Die erste Periode war natürlich von drei Kriegen belastet. Auch in diesem Fall stimmt das alte finnische Sprichwort: "Im Frieden hat die Suppe Fettaugen."

Seit den Nachkriegsjahren ist schon viel Zeit vergangen, aber dennoch ist es meiner Ansicht nach angebracht, an diesem Festtag unserer Selbständigkeit die Aufmerksamkeit speziell auf die großartigen Erfolge der finnischen Arbeit, des Unternehmungsgeistes und der Zähigkeit zu richten, auf deren Fundament der jetzige hohe Standard unserer Wirtschaft errichtet worden ist. Ich meine damit, daß wir es unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit geschafft haben, die Umsiedler unterzubringen, unsere Reparationen zu bezahlen, in erstaunlichem Umfang unsere sozialen Bedingungen zu verbessern. Wir schafften es überdies auch, unsere Industrie zu erweitern und zu modernisieren.

Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung sind auch in der Schulausbildung und Fortbildung bedeutende Entwicklungen erfolgt. Ich habe in einem anderen Zusammenhang erwähnt, daß die Zahl der Besucher von Schulen und Universitäten sich während unserer Selbständigkeit verzehnfacht hat. Ums Jahr 1920 besuchten etwa 10 Prozent der betreffenden Jahrgänge die Oberschule; jetzt beträgt die Quote der Abgänger von der Mittel und Oberschule über die Hälfte dieser Jahrgänge.

Die Abiturientenprüfung hatten in den Anfangsjahren unserer Selbständigkeit 3/4 % (im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) abgelegt. Jetzt beträgt dieser Anteil 4 %, also das Sechsfache. Auch die berufliche Fortbildung hat sich vor allem während der letzten Jahre derart schnell erweitert, daß in der Altersklasse der 17jährigen gegenwärtig sieben von zehn eine Berufs- oder Oberschule besuchen. Unser Volk ist reif dazu, mit Hilfe der Gesamtschulreform der gesamten Jugend einen modernen Ausbildungsweg anzubieten.

Bei einer Prüfung unserer sozialen Lebensbedingungen fällt die schnelle Entwicklung unseres Gemeinwesens stärker ins Auge. Während der Anfangsjahre unserer Selbständigkeit erstreckte sich unsere Sozialpolitik in erster Linie auf Fürsorge für Arme und Gebrechliche. Jetzt tragen wir gemeinsam die Verantwortung für den Lebensstandard von Kranken, Arbeitsunfähigen, Witwen und Betagten. Im Jubiläumsjahr unserer Selbständigkeit verwenden wir ein Siebtel unseres gesamten Sozialprodukts für Kranke, Arbeitsunfähige, Witwen und Betagte. Wenn wir in die sozialen Aufwendungen auch die Kosten für Gesundheitspflege und die entsprechende Ausbildung einbeziehen, dann erreichen die Gesamtausgaben 36 % der Endsumme des Staatshaushalts.

Unser System der sozialen Sicherheit ist bei weitem noch nicht fertig. Persönlich bin ich darüber erfreut, daß gerade zu diesen unseren Festtagen eine Vorlage eingebracht wurde, welche endlich auch die verwitweten Mütter in den Kreis der sozialen Sicherheit einbeziehen wird.

Dann und wann hören wir, wie man vor dem Krieg zu leben in der Lage war, obgleich es keine Kindergelder, keine Volksrente und keine Krankenversicherung gab. Die Mütter schafften es damals, ihre Kinder selbst aufzuziehen, ohne Hilfe des Gemeinwesens. Und diese Mütter haben wirklich eine wertvolle Arbeit geleistet. Sicher ist aber auch, daß die heutigen Mütter, Kranken und Betagten mit weniger Beihilfe zurechtkommen würden, wenn das erforderlich wäre. Zum Glück existiert dieser Zwang nicht mehr. In unserem heutigen Gemeinwesen besteht Zusammengehörigkeit zwischen allen. Die Ergebnisse der steigenden Produktion gehören auch den Kindern, den Kranken und den Alten.

Mithin kann man aus den Bereichen des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens Positives über unser Land berichten. Leider berichten diese schönen Zahlen nicht die ganze Wahrheit. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die Tatsache, daß in unserem Wohlstand Niveauunterschiede bestehen, die erschütternd groß sind. Schon zwischen den geographischen Wirtschaftsbereichen kann man erhebliche Unterschiede feststellen. In den ärmeren Regionen beträgt das Einkommen pro Kopf nur die Hälfte dessen, was in den reichen Wirtschaftsregionen Südfinnlands der Durchschnitt ist. Überdies sind diese nur Durchschnittszahlen, die sich auf große Gebiete beziehen. Dahinter verbergen sich noch grellere Unterschiede im Einkommensniveau zwischen kleineren Wirtschaftsbezirken.

Wir können mit dem allgemeinen Aufstieg unserer wirtschaftlichen Entwicklung zufrieden sein, aber es ist nicht gerade schmeichelhaft für unser Jubiläumsjahr, daß 65 000 Finnen ohne Arbeit sind, der größte Teil von ihnen in den ärmsten Regionen des Landes. Das beinhaltet zwei Tatsachen: Der wirtschaftliche Wohlstand hat sich nicht gleichmäßig über das ganze Land verbreitet, und die wirtschaftliche Unsicherheit, die von Konjunkturschwankungen verursacht wird, ist ein keineswegs überwundenes Phänomen.

Wollen wir zu einer Durchleuchtung unseres staatlichen Lebens übergehen. Als Erreichtes von grundsätzlicher Natur kann gelten, daß unsere nach vielen bitteren Phasen 1919 bestätigte, republikanische, demokratische, auf einer parlamentarischen Staatsordnung basierende Verfassung bruchlos gehalten hat. Unsere Demokratie ist keine Demokratie des guten Wetters, denn sie hat in Friedenszeiten Gegenwind und in Kriegszeiten Stürme durchstehen müssen. Das Vielparteiensystem hat dazu geführt, daß unsere Regierungen kurzlebig und zahlreich sind, was natürlich für eine konsequente, auf lange Sicht angelegte Regierungspolitik von Nachteil ist. Andererseits zwingt es zu Kompromissen, bei denen auch auf die Meinungen von Minderheiten Rücksicht genommen wird.

Finnland ist ein freies Land, wo auch erheblich voneinander abweichende Ansichten unter anderem in politischen, wirtschaftlichen und religiösen Fragen zugelassen sind. Das ist in unserer Republik nicht immer so gewesen. Es hat Zeiten gegeben, da herrschte in Finnland die Vorstellung, daß eine Einmütigkeit, die sich über alle Fragen erstreckt, die Kraftquelle der Nation ist, auch wenn diese Einmütigkeit sich nur durch Zwang erreichen läßt. Seit dem Krieg gewinnt langsam die Vorstellung oberhand, eher das Akzeptieren von Verschiedenheiten ist ein Zeichen der Stärke der Demokratie. Wahre Demokratie ist nicht allein Macht der Mehrheit, sondern sie beinhaltet auch, daß Recht und Existenz der Minderheiten respektiert werden. Gerade eine Vielfalt der Ansichten und Anschauungen ist bezeichnend für dynamische Gemeinwesen.

Finnland hat zwei Nationalsprachen, Finnisch und Schwedisch. Die kulturellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der finnisch- und der schwedischsprachigen Bevölkerung werden von seiten des Staates nach denselben Prinzipien befriedigt. Die Konflikte, die vor dem Krieg zwischen den Finnisch- und Schwedischsprachigen bestanden, sind mit dem wachsenden Gefühl der Zusammengehörigkeit verschwunden. Ich bin sicher: Ein wesentlicher Grund ist, daß die Vorstellung vom pluralistischen Gemeinwesen sich durchgesetzt hat und damit auch das Akzeptieren von Unterschiedlichkeiten und Rechten für Minderheiten. Je mehr die Toleranz in unserem Land an Boden gewinnt, als desto gesicherter und positiver kann unsere sprachliche Minderheit ihre Position betrachten.

Obwohl fast die Hälfte der jetzt lebenden Finnen nach dem Krieg geboren ist, in einer Zeit, die "Zweite Republik" genannt worden ist, haben wir dennoch viele Menschen, die aus persönlicher Erfahrung die Vergangenheit mit der Gegenwart vergleichen können. Sie können entdecken, daß es heute etwas ganz anderes als früher ist, als Bürger dieses Landes zu leben. Aber wir müssen auch begreifen, daß zugleich andere mit uns lebende Finnen diesem Vaterland auf eine Art gegenüberstehen, die von der üblichen abweicht. Die blutigen Gegensätze der Jahre 1917 und 1918 geraten langsam in Vergessenheit, aber haften bleibt im Gedächtnis das Bewußtsein der Tatsache, daß sich das Vaterland Finnland in der Weißen Armee anders ausnahm als in unseren damals zahlreichen Gefangenenlagern (für die besiegten Roten). In vieler Beziehung von denen anderer abweichend waren auch Gefühl und Einstellung vieler Finnen während der Zeit unserer Selbständigkeit: Glück und Niederlage, Übermut und Furcht vor dem Verlust von allem, Trotz und Unterwerfung unter das Schicksal, Hängen an Altem und Verkünden eines neuen Lebens und einer neuen Auffassung von ihm. Es war ein Glück, Finne zu sein, und es war eine Plage, Finne zu sein. Hier auf unserem Stück Boden hat es immer Menschen und Menschengruppen gegeben, deren Leben stets schwer gewesen ist. Mal war es angefüllt mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mal lag es unter einem starken geistigen Druck. Sie haben mit Recht über ihr Schicksal gemurrt und ihr Los beklagt, wollten aber niemals -- abgesehen vielleicht von Augenblicken der Verzweiflung -- die Verbindung zu dem Volk kappen, dem sie angehören.

Ein Überblick über das am Meilenstein des halben Jahrhunderts unserer Unabhängigkeit Erreichte würde unvollständig bleiben, wenn wir an unserer Außenpolitik vorbeigingen.

Für einen jungen Staat ist Außenpolitik eine schwere Kunst, um so schwerer, wenn seine geographische Situation und das von der Geschichte hinterlassene Erbe so aussehen wie im Falle Finnland. Ein Fatalist könnte sagen, daß 1939 und 1941 unser Los schon vorausbestimmt war. Aber der, der den irrationalen Kräften des Schicksals nicht den Vorsitz am Tisch der Weisen des Staates zuerkennen will, wird sich nicht mit derart leicht erreichten Wertungen zufriedengeben. Zumindest möchte er die Faktoren aufweisen, auf welche die Außenpolitik des Landes in der Zukunft zu bauen hat.

Nach 1944 wurde es dem finnischen Volk klar, daß seine außenpolitische Zukunft gute Nachbarschaft und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Nachbarstaaten erfordert.

Ganz besonders gilt dies für unseren östlichen Nachbarstaat Sowjetunion, denn hier eröffnet die Freundschaftspolitik eine neue historische Phase.

In den Beziehungen zwischen Finnland und Rußland ebenso wie zwischen Finnland und der Sowjetunion gab es derart viel historische Belastung und Ballast, daß ein Fatalist jede Zusammenarbeit als Utopie hätte verdammen können. Aber die Vorurteilsfreiheit und das Vertrauen, mit denen die Völker und die politische Führung Finnlands und der Sowjetunion darangingen, die gemeinsamen Probleme der Zukunft zu lösen, trugen bald Früchte. Der Fluch der Geschichte ist überwunden, die schlechten Erinnerungen der Vergangenheit sind verblaßt. Vertrauensvolle Zusammenarbeit auf dem Boden der nationalen Interessen und des Respekts voreinander garantieren Ruhe und Frieden in dieser früher so unruhigen äußersten Ecke Nordeuropas.

Unsere Stellung in Europa als eines der wenigen neutralen Länder unseres Kontinents ist auf Grund einer gelungenen Nachbarschaftspolitik klar ebenso wie konsolidiert. Darauf gründet sich auch die Wertschätzung, die wir in der internationalen Politik genießen.

Das selbständige Finnland hatte während der 50 Jahre seiner Geschichte vieles zu lernen. Nach meiner Ansicht ist das Wichtigste, was wir gelernt haben, die Tatsache, daß man in der Außen- und in der Innenpolitik auf blindem Eifer und Unbedingtheit nichts anderes aufbauen kann als Streit. Die Resultate bleiben klein und sind oft untragbar. Die Zeiten sind vorbei -- oder sie sollten wenigstens vorbei sein -- , da die inneren und äußeren Probleme von Gemeinwesen mit Gewalt gelöst wurden.

Ich wünsche von Herzen, daß das finnische Volk in allen seinen Handlungen und in allen seinen Schichten beseelt von einer nachdenklichen, andere verstehenden und kompromißbereiten Einstellung in die jetzt vor uns liegende zweite Jahrhunderthälfte eintritt. Ich glaube, wenn wir so handeln, dann werden wir ein gegenüber früher glücklicheres Land aufbauen. Wollen wir bei dieser Aufbauarbeit dafür sorgen, daß das Glück auch in die niedrigste Hütte einzieht.