21.

DIE BESUCHE IN DER SOWJETUNION UND IN

DEN VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA

In Hörfunk und Fernsehen am 31. Juli 1970

Während der zurückliegenden zwei Wochen habe ich Staatsbesuche sowohl in der Sowjetunion als auch in den Vereinigten Staaten gemacht und Gelegenheit erhalten, mit den politischen Führungskräften der beiden führenden Großmächte ebenso über finnische Angelegenheiten zu sprechen wie über die internationale Situation allgemein. In der Welt erregte es einiges Aufsehen, daß ich fast direkt von Moskau nach Washington reiste. Die zeitliche Nähe der Besuche hing zwar in erster Linie von zufälligen Umständen ab, aber sie erwies sich auch als für Finnland vorteilhaft in dem Sinne, daß auf diese Art Finnlands Neutralitätsposition und die ihr von den Großmächten zuteil gewordene Anerkennung betont und gewissermaßen sichtbar gemacht wurde. Diese beiden Besuche geben mithin Anlaß, Finnlands internationale Stellung zu untersuchen -- und dabei auch ihre finnischen Hintergrundfaktoren, wobei ich diesmal die Aufmerksamkeit leider hauptsächlich auf negativ einwirkende Phänomene zu richten sowie einige Perspektiven darzulegen habe, welche die Entwicklung der internationalen Beziehungen allgemein betreffen.

Es ist von Nutzen, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie die Welt zu jener Zeit aussah, als ich letztmalig entsprechende Staatsbesuche durchführte. Zu privaten Besuchen bin ich in der Sowjetunion viele Male gewesen, aber der letzte offizielle Besuch liegt schon zehn Jahre zurück, und die Vereinigten Staaten besuchte ich letztmalig vor neun Jahren. Damals waren wir in einer der angespanntesten Phasen des Kalten Krieges. Der Tenor der Gespräche zwischen den führenden Großmächten bestand aus gegenseitigen Anschuldigungen und Drohungen. Die Gefahr eines Kernwaffenkrieges wurde bei allen politischen Kalkulationen real in Betracht gezogen. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Stellung Finnlands, wie wir im Herbst 1961 konstatieren konnten.

In dieser Hinsicht hat sich die Situation völlig verändert, und das konnte ich während der beiden Besuche wieder konstatieren. Ich will damit nicht sagen, daß die Gegensätze zwischen den Großmächten verschwunden wären. Der Krieg in Indochina vergiftet nach wie vor die internationalen Beziehungen, welche durch eine Ausweitung des Krieges weiter zugespitzt werden würden. Die Situation in Nahost ist ungeachtet ermutigender Nachrichten während der letzten Tage nach wie vor gefahrerfüllt. In mehreren anderen Gebieten zeigen sich Spannungen und Streitigkeiten. Viele internationale Streitfragen sind nach wie vor ungelöst. Aber gleichzeitig läßt sich erkennen, daß die führenden Großmächte im Bewußtsein ihrer ungeheuren Verantwortung für das Schicksal der Menschheit bemüht sind, auf dem Verhandlungswege mit friedlichen Mitteln die strittigen Fragen zu klären. Ungeachtet aller Gegensätze vereinigt sie das Bewußtsein dessen, daß in den Beziehungen zwischen den Großmächten der Krieg kein vernünftiges Mittel mehr zum Erreichen politischer Ziele ist.

Ein Anzeichen dafür ist das Weiterführen der sogenannten SALT-Verhandlungen zur Begrenzung der strategischen Waffen. Ich bin zu der Auffassung gekommen, daß in diesen Verhandlungen beide Teile ernsthaft nach Verständnis füreinander streben, und wenn die Verhandlungen im Herbst in Helsinki fortgesetzt werden, so könnte es möglich sein, daß man zu einem Vertrag kommt, zumindest über irgendwelche der zur Verhandlung anstehenden Fragen. Dieselbe Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwecks Bewahrung des Friedens zeigen die intensiven Verhandlungen der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten in der Nahostfrage.

Parallel zu den Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten läuft in Europa ein vielschichtiger Verhandlungsprozeß, der auf das Stabilisieren der europäischen Verhältnisse hinzielt. Ich meine sowohl die Verhandlungen, welche Westdeutschland mit der Sowjetunion, Polen und Ostdeutschland führt, wie auch die Gespräche, welche eine Sicherheitskonferenz betreffen. Wenn es darum geht, die Sicherheit der europäischen Staaten auf einer neuen Basis zu errichten, dann ist es klar, daß sich keine Gesamtlösung binnen kurzem zustande bringen läßt. Aber eine bemerkenswerte und aus der Perspektive des Friedens positive Wende in der Situation Europas bedeutet schon die Tatsache, daß man sich allerseits aufrichtig bemüht, sich von der seinerzeit aufgebauten Einstellungen und Positionen zu trennen sowie die gegenseitige Furcht und Einschüchterung durch eine Gemeinsamkeit des Handels zu ersetzen, die zumindest ein gewisses Vertrauen voraussetzt.

Was die internationalen Beziehungen angeht, so leben wir in einer Zeit großen Umbruchs, welche ich in meiner Moskauer Rede mit dem Eistreiben nach dem Kalten Krieg verglichen habe. Eine derartige Zeit erregt in unseren Sinnen die Hoffnung auf das Heraufziehen einer sichereren, versöhnlicheren Zukunft, aber sie kann einen Staat in der Situation Finnlands auch in gewissem Sinne Prüfungen unterwerfen, denn leicht können Unsicherheit und Spekulation entstehen, Kalkulationen darüber, wo die einzelnen Länder in der sich ändernden internationalen Aufstellung ihren Platz suchen werden. Aus diesem Grund war es für uns von großem Nutzen, daß meine beiden Besuche klar die Kontinuität und Stabilität der Politik und der internationalen Beziehungen Finnlands zeigten.

Von besonderer Bedeutung war in dieser Hinsicht die in Moskau getroffene Entscheidung, den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand schon jetzt um zwanzig Jahre zu verlängern. So bezog Finnland unbestreitbar eine Position jenseits aller möglicherweise auftretenden Spekulationen. Die Kontinuität der finnisch-sowjetischen Beziehungen wird durch den Umstand hervorgehoben, daß keine Notwendigkeit bestand, den Vertrag zu ändern. Die Bedeutung dieses Vertrags ist nach meinem Dafürhalten als Ganzheit im Lichte der positiven Erfahrungen zu sehen, die während der letzten zwei Jahrzehnte in der Entwicklung der finnisch-sowjetischen Beziehungen gewonnen werden konnten. Der Vertrag gibt dem aufrichtigen Willen beider Länder Ausdruck, in Frieden als gute Nachbarn zu leben und die Zusammenarbeit auf allen Gebieten des Lebens auf eine Art zu entwickeln, die den Vorteilen beider Partner entspricht und von internationalen Konjunkturen unabhängig ist. Nachdem die Dinge so liegen, bestand kein Anlaß, den Vertragsinhalt in Einzelheiten anzutasten.

Andererseits macht sich nach wie vor, wenn auch seltener als früher, eine Einstellung bemerkbar, daß der finnisch-sowjetische Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand auf gewisse Art in Widerspruch zur finnischen Neutralitätspolitik steht. Dies ist eine falsche Auffassung. In der praktischen Politik ist ein derartiger Widerspruch nicht zu bemerken gewesen. Wir haben in praxi in der internationalen Politik unsere eigene neutrale Linie befolgt und gleichzeitig die ganze Zeit über in unseren Beziehungen zur Sowjetunion die Freundschaftspolitik entwickelt und konsolidiert. Tatsächlich besteht sowohl formell als auch sachlich ein Zusammenhang zwischen dem Vertrag und unserer richtig aufgefaßten und durchgeführten Neutralitätspolitik: ein formeller Zusammenhang auf dem Weg, daß im Vertrag ausdrücklich der finnische Wunsch, außerhalb der Interessenkonflikte der Großmächte zu bleiben, beachtet wird, was ich bei meiner Rede in Moskau als das grundsätzlichste Bestreben des finnischen Volkes bezeichnet habe; ein sachlicher Zusammenhang besteht in dem Sinne, daß der Vertrag das Vertrauen der Sowjetunion in Finnlands friedenswillige Politik sichert, was die Voraussetzungen dafür schafft, daß wir in unseren internationalen Beziehungen unsere Neutralität erfolgreich ins Werk setzen können.

Summa summarum: Das Vertrauen anderer Staaten und vor allem der Großmächte ist die Vorbedingung für das Gelingen unserer Neutralitätspolitik. Indem ich das sage, möchte ich noch hinzufügen: Wenn nun die Großmächte einmal in öffentlichen Erklärungen unsere Neutralitätspolitik anerkannt haben, so haben wir damit nicht einen Vorteil erreicht, der irreversibel wäre, sondern das Bewahren dieser Anerkennung hängt von Tag zu Tag direkt davon ab, wie wir in der ständig wechselnden internationalen Situation handeln.

Aus diesem Grunde halte ich für das bemerkenswerte Ergebnis der beiden Besuche folgendes: Das in Moskau veröffentlichte Kommunique konstatiert, daß Finnlands friedliebende Außenpolitik und ihre Pflege freundschaftlicher Beziehungen zu allen L,ändern auf wertvolle Art auf die Entwicklung des internationalen Einverständnisses und somit auf die Sache des universellen Friedens einwirkt. In Washington konstatierten der Präsident und der Außenminister der Vereinigten Staaten in ihren Reden wie auch in Gesprächen, daß sie Finnlands aktive Neutralitätspolitik und unseren Einsatz zur Förderung des internationalen Ausgleichs und Einverständnisses wertschätzen.

Es ist interessant zu konstatieren, daß in beiden Hauptstädten Anerkennung gerade unserer aktiven Tätigkeit in der internationalen Politik ausgesprochen wurde. Unter den heutigen Bedingungen können wir unser Neutralitätsstreben nicht mehr zum Ausdruck bringen, indem wir uns zurückziehen oder schweigen. Wir wollen weiterhin außerhalb der Interessenkonflikte der Großmächte insofern bleiben, daß wir uns nicht darauf einlassen, die Interessen einer Mächtegruppierung gegen die einer anderen zu fördern. Aber dies hindert uns nicht, sondern gibt uns im Gegenteil die Möglichkeit, im Interesse einer friedlichen Lösung dieser Interessengegensätze tätig zu sein und Initiativen zu ergreifen. Wie ich in Moskau sagte, ist Finnland zwischen Krieg und Frieden nicht neutral: Finnland steht auf der Seite des Friedens, gegen den Krieg. Denselben Gedanken legte ich in Washington dar, indem ich sagte, Finnland sei gegen Anwendung von oder Drohung mit Gewalt in den internationalen Beziehungen überall dort, wo dies geschieht, und sei immer bereit, von sich aus an internationaler Zusammenarbeit zur Sicherung des Friedens teilzunehmen.

Diese Haltung ist nicht allein selbstloser Idealismus, sondern sie geht von einer realistischen Einschätzung unserer eigenen nationalen Sicherheit aus. In der heutigen Weltsituation hat die Abhängigkeit aller Staaten voneinander einen derartigen Grad erreicht, daß jeder Zwischenfall -- auch ein weit entfernter -- , welcher die internationale Sicherheit allgemein bedroht, letztlich die Sicherheit auch unseres Landes bedroht.

Wenn wir als neutrales Land uns nicht auf militärische Allianzen oder den Schutz einer Staatengruppierung gegen eine andere stützen, sondern auf eine Außenpolitik, die unser Land außerhalb möglicher Zwischenfälle hält, dann liegt es in unserem eigenen lebenswichtigen Interesse, uns um Stärkung und Verbesserung jenes weltweiten kollektiven Sicherheitssystems zu bemühen,welches die Organisation der Vereinten Nationen den Völkern bietet. Darauf hat Finnland in seiner Tätigkeit als Mitglied des Sicherheitrats der Vereinten Nationen während der letzten anderthalb Jahre hingezielt, und mit Befriedigung kann man bemerken, daß dieser Tätigkeit Anerkennung zuteil wird, sowohl im Moskauer Kommunique als auch in Washington in den Reden, die während meines Besuches gehalten wurden.

Entsprechend wollen wir in regionalem Rahmen, in Europa, daran beteiligt sein, ein Friedenssystem zu schaffen, das die Lebensinteressen aller Staaten, auch der neutralen, sichert und allen Völkern Europas die Möglichkeit gibt, ihre eigene völkische Identität zum Ausdruck zu bringen -- nicht im Trotz gegeneinander, sondern gemeinsam in Einverständnis und Zusammenarbeit. Als Präsident Nixon bei einem wegen meines Besuchs anberaumten Diners konstatierte, daß Finnland der Freund Amerikas sein kann, ohne deswegen der Gegner irgendeiner anderen Nation zu sein, da brachte er damit das Prinzip an die Öffentlichkeit, das in den Beziehungen zwischen den Völkern überall herrschen sollte. Der Plan für die europäische Sicherheitskonferenz zielt meiner Ansicht nach auf die Verwirklichung dieses Prinzips hin. Ich weiß gut, daß diese schweren Fragen, die ein Hindernis für die friedliche Entwicklung der Beziehungen der Staaten Europas bilden, nicht in kurzer Zeit oder auf einer Konferenz gelöst werden können. Zu ihrer Klärung bedarf es bestimmt eines langfristigen Verhandlungsprozesses. Wichtig aber ist jetzt, diesen Prozeß in Gang zu bringen. Von finnischer Seite wird nun im Licht der während der Staatsbesuche geführten Gespräche überlegt, welche Möglichkeiten zum Anregen neuer Gedanken oder Initiativen es in diesem Sinne gibt. Ich glaube, daß die Atmosphäre jetzt für derartige Initiativen günstig ist.

Über die während meiner Besuche geführten Wirtschaftsund Handelsgespräche sind der Öffentlichkeit schon detaillierte Informationen gegeben worden, und ich brauche diese hier nicht zu wiederholen. Ich möchte jedoch noch die Bedeutung der weit ausgreifenden wirtschaftlichen Zusammenarbeitsprojekte unterstreichen, über die jetzt zwischen Finnland und der Sowjetunion Gespräche geführt werden. Von unserem Standpunkt ist es wichtig, für zentrale Sektoren des Wirtschaftslebens Verträge mit langer Spannweite zu erreichen. Wie ich in meiner Moskauer Rede am 20. Juli konstatierte, stützt gerade eine derartige handelspolitische Kontinuität unsere Anstrengungen, unsere Wettbewerbsfähigkeit auf allen Märkten auch bei einer Änderung der Marktgruppierungen zu erhalten, was für uns eine wirtschaftliche Unabdingbarkeit ist. In diesem Zusammenhang kann ich davon unterrichten, daß seitens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kürzlich bei uns ebenso wie bei -- unter anderem

-- Schweden, Österreich und der Schweiz angefragt wurde, ob wir bereit sind, im Herbst auf Ministerebene Verhandlungen über das Arrangieren wirtschaftlicher Beziehungen einzuleiten, und diese Frage wurde von finnischer Seite positiv beantwortet.

Wenn ich gefragt worden bin, ob Finnland über die kürzlich abgelegten Staatsbesuche eine Art Vermittleraufgabe zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten wahrnimmt, habe ich geantwortet, daß beide Großmächte eine feste Direktverbindung miteinander haben und unter den heutigen Umständen keinen Vermittler im eigentlichen Sinne des Wortes benötigen. Aber ein kleines neutrales Land wie Finnland kann dessenungeachtet die Möglichkeit haben, bestimmte Dienste zugunsten der internationalen Sicherheit und des internationalen Einverständnisses durchzuführen.

Das respektierte amerikanische Blatt Christian Science Monitor schrieb letzten Sonntag in seinem Leitartikel aus Anlaß meines Besuchs dem Sinn nach Folgendes: Da wir jetzt in einer Zeit wichtiger Verhandlungsbestrebungen der amerikanisch-sowjetischen Diplomatie leben, ist es außerordentlich wichtig, daß sowohl Moskau als auch Washington ein so klares und ehrliches Bild von den Gesichtspunkten der Gegenseite bekommen, wie es zu bekommen überhaupt nur möglich ist. Und in beiden Hauptstädten ist man nach Ansicht des Blattes geneigt, sich auf ein finnisches Wort und finnisches Urteilsvermögen zu verlassen.

Man kann der Höflichkeit einen eigenen Platz zuweisen, aber auch die Aussage dieser Zeitung schildert die im Verlauf meines Besuches stärker gewordene Ansicht, daß Finnland in der internationalen Politik seine eigene Aufgabe und seinen eigenen Kredit hat. Dies haben wir umsichtig absichern wollen. Der Einsatz, den wir für die friedliche Entwicklung der internationalen Beziehungen haben leisten können, erhält eine nachdrückliche Bedeutung jetzt, da die Welt an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Zusammenarbeit zu stehen scheint.